
Der ständige Vergleich zwischen „einfachen“ und „schwierigen“ Kindern ist irreführend und zermürbend. Die wahre Lösung liegt nicht darin, Ihr Kind zu „reparieren“, sondern sein angeborenes Temperament zu verstehen.
- „High-Need-Babys“ sind oft „Orchideen-Kinder“, die in einer passgenauen, reizarmen Umgebung aufblühen.
- Der Schlüssel ist die Co-Regulation des kindlichen Nervensystems, was zuerst die Selbstregulation der Eltern erfordert.
Empfehlung: Verlagern Sie Ihren Fokus von der Suche nach der perfekten Erziehungsmethode auf die bewusste Gestaltung einer Umgebung, die das Nervensystem Ihres Kindes (und Ihr eigenes) beruhigt.
Das Baby schreit, sobald Sie es ablegen. Ihr Kleinkind bekommt einen Wutanfall bei der kleinsten Veränderung im Tagesablauf. Sie haben alle Bücher gelesen, alle Ratschläge von Freunden befolgt, doch nichts scheint zu funktionieren. Langsam, aber sicher schleicht sich der zermürbende Gedanke ein: „Was mache ich falsch?“ Sie fühlen sich erschöpft, isoliert und zweifeln an Ihren Fähigkeiten als Mutter oder Vater. Im Internet stoßen Sie auf Begriffe wie „High-Need-Baby“, „gefühlsstarkes Kind“ oder „Schreibaby“, die zwar eine Erklärung, aber oft keine wirkliche Entlastung bieten.
Doch was, wenn die ständige Suche nach der „richtigen“ Erziehungsmethode in die Irre führt? Was, wenn es nicht darum geht, das Kind zu „reparieren“, sondern seine Umgebung an sein einzigartiges, angeborenes Temperament anzupassen? Dieser Artikel entlastet Sie, indem er den Fokus von der Erziehung auf die Gestaltung einer passgenauen Welt für Ihr Kind legt. Als Persönlichkeitspsychologin zeige ich Ihnen, wie Sie auf Basis des wissenschaftlich fundierten „Orchideen-Löwenzahn-Modells“ die wahren Bedürfnisse Ihres Kindes erkennen und erfüllen können. Es geht nicht darum, härter zu arbeiten, sondern klüger – und vor allem nachsichtiger mit sich selbst und Ihrem Kind zu sein.
Wir werden gemeinsam erkunden, wie Sie den Alltag überleben, wenn alles zu viel scheint, wie Sie die Welt Ihres Kindes reizärmer gestalten und wie Sie lernen, klare Grenzen zu setzen, ohne die sensible Seele Ihres Kindes zu verletzen. Sie erhalten konkrete, in Deutschland verfügbare Hilfestellungen und praktische Techniken, um sowohl Ihr Kind als auch sich selbst zu regulieren.
Inhaltsverzeichnis: High-Need-Baby verstehen und den Familienalltag entlasten
- Wie überleben Sie den Alltag mit einem Kind, das alles extrem empfindet?
- Braucht Ihr Kind Ruhe nach der Kita oder Action?
- Was tun, wenn das Baby 24/7 Körperkontakt und Regulation braucht?
- Warum tun sich manche Kinder schwer mit Übergängen und wie helfen Sie?
- Warum funktioniert bei Kind 2 nicht, was bei Kind 1 geklappt hat?
- Warum beruhigen monochrome Outfits in Beige und Grau Ihr Nervensystem?
- Wie beruhigen Sie sich selbst, um dann Ihre Kinder oder Kollegen zu beruhigen?
- Wie sagen Sie „Nein“, ohne Ihr Kind zu verletzen, aber trotzdem klar zu bleiben?
Wie überleben Sie den Alltag mit einem Kind, das alles extrem empfindet?
Die ständige Anspannung, die Sorge und die schlaflosen Nächte hinterlassen Spuren. Wenn Sie das Gefühl haben, am Ende Ihrer Kräfte zu sein, sind Sie nicht allein. Diese Erschöpfung ist keine persönliche Schwäche, sondern eine normale Reaktion auf eine außergewöhnliche Belastung. Tatsächlich ist die Situation so verbreitet, dass Studien die gravierenden Auswirkungen auf Eltern belegen. So zeigt eine Erhebung des Müttergenesungswerks, dass bis zu 87 % der Mütter in Mutter-Kind-Kuren an massiven Erschöpfungssyndromen leiden, die oft direkt mit den hohen Anforderungen der Kinderbetreuung zusammenhängen.
Der erste und wichtigste Schritt zum Überleben ist, diese Belastung anzuerkennen und externe Hilfe als Notwendigkeit, nicht als Luxus zu betrachten. In Deutschland gibt es ein gut ausgebautes Netz an Unterstützungsmöglichkeiten, das genau für solche Situationen geschaffen wurde. Ein zentraler Anlaufpunkt sind die sogenannten Schreiambulanzen. Entgegen ihres Namens sind sie nicht nur für schreiende Säuglinge da, sondern für alle Eltern, die sich im Umgang mit ihren Kindern von 0-3 Jahren überfordert fühlen. Die bundesweite Datenbank des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen (NZFH) vermittelt kostenfreie Angebote in Ihrer Nähe. In der Münchner Schreiambulanz beispielsweise erhalten Eltern in zweistündigen Terminen mit Kinderärzten und Entwicklungspsychologen konkrete, auf ihre Familie zugeschnittene Ratschläge.
Wenn die Erschöpfung chronisch wird, kann eine Mutter-Kind-Kur (oder Vater-Kind-Kur) eine lebensrettende Maßnahme sein. Sprechen Sie offen mit Ihrem Hausarzt über Ihre Symptome. Er kann Ihnen ein Attest ausstellen, das die medizinische Notwendigkeit bescheinigt. Beratungsstellen wie die des Mütter-Kind-Hilfswerks helfen Ihnen kostenfrei bei der Antragsstellung und der Auswahl einer passenden Klinik. Der wichtigste Schritt ist, die eigene Erschöpfung ernst zu nehmen und sich die Erlaubnis zu geben, Unterstützung anzufordern.
Braucht Ihr Kind Ruhe nach der Kita oder Action?
Nach einem langen Tag in der Kita, gefüllt mit Lärm, sozialen Interaktionen und unzähligen Eindrücken, ist das Nervensystem vieler Kinder, insbesondere der sensibleren, komplett überlastet. Die oft gehörte Annahme, Kinder müssten sich nach der Kita auf dem Spielplatz „auspowern“, ist für viele dieser Kinder kontraproduktiv. Sie brauchen keinen weiteren Input, sondern eine Phase der Dekompression, um die Reize des Tages zu verarbeiten. Action würde das bereits überreizte System nur weiter fluten und führt oft zu den gefürchteten Wutanfällen am späten Nachmittag.
Der Schlüssel liegt darin, eine passgenaue Umgebung zu schaffen, die dem Kind hilft, wieder zu sich zu finden. Das bedeutet, bewusst ruhige, strukturierte Aktivitäten anzubieten, die das Nervensystem beruhigen. Ein solcher „Dekompressionsplan“ könnte direkt nach dem Abholen beginnen:
- Planen Sie eine 15-minütige Pufferzeit ohne direkte Anschlusstermine ein.
- Statt auf den Spielplatz zu gehen, schaffen Sie eine ruhige Vorlese- oder Kuschelzeit auf dem Sofa.
- Gemeinsames Kneten, Malen oder ruhige Musik hören können Wunder wirken.
- Ein kurzer Spaziergang in der Natur, bei dem das Kind das Tempo vorgibt, kann ebenfalls erdend sein.
Auch die Wahl der Kita selbst kann einen großen Unterschied machen. Nicht jedes pädagogische Konzept ist für jedes Kind geeignet. Für ein reizempfindliches Kind kann ein offenes Konzept mit großen, wechselnden Gruppen und hohem Lärmpegel purer Stress sein, während eine kleine, strukturierte Gruppe in einem Waldkindergarten eine Oase der Ruhe darstellt.

Diese Philosophie der Reizreduktion setzt sich im eigenen Zuhause fort. Ein reizarm gestaltetes Kinderzimmer mit neutralen Farben, geordnetem Spielzeug und einer gemütlichen Rückzugsecke, wie einer kleinen Höhle oder einem Zelt, schafft einen sicheren Hafen, an dem sich das Nervensystem erholen kann. Es geht darum, dem Kind einen Ort zu bieten, an dem es nicht ständig leisten oder reagieren muss, sondern einfach nur sein darf.
Was tun, wenn das Baby 24/7 Körperkontakt und Regulation braucht?
Ein Baby, das ununterbrochen Körperkontakt fordert, nicht abgelegt werden kann und sofort untröstlich weint, bringt Eltern an den Rand der Verzweiflung. Dieses Verhalten ist kein Zeichen von Verwöhnung oder eine schlechte Angewohnheit, sondern ein tiefes biologisches Bedürfnis nach Sicherheit und Co-Regulation. Das Nervensystem eines Neugeborenen ist noch nicht in der Lage, sich selbst zu beruhigen. Es ist auf die physische Nähe und den ruhigen Herzschlag einer Bezugsperson angewiesen, um Stress abzubauen und sich sicher zu fühlen. Dieses Phänomen ist weiter verbreitet, als man denkt. Nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) zeigt etwa jedes achte bis zehnte Baby in den ersten drei Monaten ein exzessives Schrei- und Unruheverhalten.
Diese Kinder haben einen besonders durchlässigen „Reiz-Filter“ und nehmen ihre Umwelt intensiver wahr. Sie spüren nicht nur äußere Reize wie Lärm und Licht stärker, sondern auch die innere Anspannung ihrer Bezugspersonen. Der renommierte Bindungsforscher Karl Heinz Brisch erklärt dies treffend in der Apotheken Umschau:
Babys sind Seismografen, sie spüren solche Stimmungen und spiegeln sie. Weil sie sich von solchen Einflüssen noch nicht abgrenzen können, reagieren sie sich ab, indem sie signalisieren: ‚Ich spüre großen Stress! Komm und halt mich fest!‘
– Karl Heinz Brisch, Apotheken Umschau
Die praktischste Lösung, um diesem Bedürfnis nachzukommen und gleichzeitig die Hände frei zu haben, sind Tragehilfen oder Tragetücher. Sie ermöglichen es dem Baby, die regulierende Nähe zu spüren, während die Eltern alltägliche Aufgaben erledigen können. Eine professionelle Trageberatung in Deutschland kann helfen, die richtige Trage für Mutter, Vater und Kind zu finden. Insbesondere die Nutzung der Vätermonate bietet hier eine wertvolle Chance: Wenn Väter durch Tragen und viel Haut-zu-Haut-Kontakt aktiv in die Co-Regulation einbezogen werden, stärkt das nicht nur die Vater-Kind-Bindung, sondern verschafft der Mutter auch dringend benötigte Pausen zur eigenen Regeneration.
Warum tun sich manche Kinder schwer mit Übergängen und wie helfen Sie?
Vom Spielen zum Aufräumen, vom Anziehen zum Verlassen des Hauses, vom Abendessen zum Zähneputzen – jeder Übergang ist für manche Kinder eine immense Herausforderung, die oft in Tränen und Wut endet. Dieses Verhalten ist selten reiner Trotz. Für ein Kind mit einem sehr sensiblen Nervensystem und einem durchlässigen Reiz-Filter bedeutet jeder Übergang eine abrupte Veränderung der sensorischen Informationen, der Erwartungen und der Umgebung. Es ist, als würde man sie aus einer tiefen Konzentration reißen und in eine völlig neue Welt werfen, ohne Vorwarnung. Ihr Gehirn braucht mehr Zeit, um eine Handlung abzuschließen und sich auf die nächste vorzubereiten.
Der Schlüssel zur Erleichterung von Übergängen liegt in Vorhersehbarkeit und Struktur. Kinder fühlen sich sicherer, wenn sie wissen, was als Nächstes kommt. Visuelle Hilfsmittel sind hierbei extrem wirksam. Ein einfacher, mit Piktogrammen gestalteter Tages- oder Wochenplan an der Wand kann Wunder wirken. Er macht die Zeit und die Abfolge von Ereignissen sichtbar und greifbar.

Neben visuellen Plänen ist eine klare und vorbereitende Kommunikation entscheidend. Statt das Kind abrupt aus seiner Tätigkeit zu reißen, helfen kleine Skripte und Rituale, die den Übergang sanft einleiten. Wichtig ist, dem Kind ein Gefühl von Kontrolle und Mitbestimmung zu geben:
- 5-Minuten-Vorwarnung: „In 5 Minuten räumen wir die Bausteine weg und machen uns fertig für den Spielplatz.“
- Wahlmöglichkeiten anbieten: „Möchtest du den roten oder den blauen Pullover anziehen?“ oder „Räumen wir zuerst die Autos oder die Puppen weg?“
- Rituale etablieren: Ein spezielles Aufräumlied singen oder ein Kitzelspiel beim Anziehen machen den Übergang zu einem vorhersehbaren Spiel.
- Positive Aussicht geben: Den Fokus auf die schöne Aktivität lenken, die als Nächstes kommt: „Sobald wir aufgeräumt haben, lesen wir dein Lieblingsbuch.“
Diese Strategien nehmen dem Übergang seinen bedrohlichen, plötzlichen Charakter. Sie bauen eine Brücke von einer Aktivität zur nächsten und geben dem kindlichen Gehirn die Zeit, die es braucht, um umzuschalten.
Warum funktioniert bei Kind 2 nicht, was bei Kind 1 geklappt hat?
Eltern von mehreren Kindern kennen das Phänomen: Die Methoden, die bei Kind 1 wunderbar funktioniert haben, scheitern bei Kind 2 kläglich. Dies führt oft zu großer Verunsicherung. Die Antwort liegt im angeborenen Temperament – einer biologisch verankerten Veranlagung, die von Geburt an die Art und Weise bestimmt, wie ein Kind auf die Welt reagiert. Es ist nicht eine Frage besserer oder schlechterer Erziehung, sondern der Passung zwischen dem Temperament des Kindes und dem Erziehungsstil der Eltern.
Die Wissenschaft hat gezeigt, dass es ein ganzes Temperaments-Kontinuum gibt. Während manche Kinder von Natur aus robust, anpassungsfähig und unkompliziert sind, ist ein signifikanter Teil der Bevölkerung anders veranlagt. Forschungen zeigen, dass etwa 20-30 % aller Menschen und Kinder eine höhere neurosensorische Empfindlichkeit aufweisen, oft als Hochsensibilität bezeichnet. Diese Kinder nehmen Reize intensiver wahr und verarbeiten sie tiefer.
Ein sehr hilfreiches Bild dafür ist das „Orchideen-Löwenzahn-Modell“ des Entwicklungspsychologen Thomas Boyce. Nach diesem Modell sind die meisten Kinder wie „Löwenzahn“: Sie sind robust und gedeihen unter fast allen Bedingungen. Ein kleinerer Teil der Kinder sind jedoch wie „Orchideen“: Sie benötigen ganz spezifische, optimale Bedingungen (wenig Stress, viel Sicherheit, eine reizarme Umgebung), um zu wachsen. Unter schlechten Bedingungen verkümmern sie schnell und zeigen extremes Verhalten (was oft als „gefühlsstark“ beschrieben wird). Wenn ihre Bedürfnisse jedoch erfüllt werden, blühen sie auf und entwickeln außergewöhnliche Fähigkeiten wie hohe Empathie, Kreativität und ein tiefes Wahrnehmungsvermögen.
Wenn also bei Kind 2 nichts mehr klappt, haben Sie wahrscheinlich eine „Orchidee“ nach einem „Löwenzahn“ bekommen. Ihr Erziehungs-Werkzeugkasten muss erweitert werden. Sie müssen nicht sich selbst, sondern Ihre Strategien ändern und eine „Gewächshaus-Umgebung“ schaffen, die Ihrer sensiblen Orchidee das Gedeihen ermöglicht. Das ist keine Niederlage, sondern eine Anerkennung der einzigartigen Persönlichkeit Ihres zweiten Kindes.
Warum beruhigen monochrome Outfits in Beige und Grau Ihr Nervensystem?
Die Frage mag trivial klingen, aber sie zielt auf ein tiefes Prinzip der Selbst- und Co-Regulation ab: die bewusste Reduzierung von sensorischem Input. Für ein Kind mit einem sensiblen Nervensystem ist die Welt oft ohrenbetäubend laut und grell. Jedes Muster, jede laute Farbe, jedes blinkende Spielzeug ist ein weiterer Reiz, den das Gehirn verarbeiten muss. Elaine Aron, die Pionierin der Hochsensibilitätsforschung, beschreibt dies so, dass bei hochsensiblen Menschen der Reiz-Filter im Gehirn weniger stark ausgeprägt ist. Es kommt also ungefiltert mehr bei ihnen an.
Was für das Kind gilt, gilt oft auch für die erschöpften Eltern. Wenn Sie selbst am Rande eines Burnouts stehen, kann die Reduzierung von visuellen Reizen auch Ihr eigenes Nervensystem beruhigen. Eine „Capsule Wardrobe“ in neutralen, monochromen Tönen reduziert nicht nur den morgendlichen Entscheidungsstress, sondern schafft auch eine visuell ruhige und friedliche Ausstrahlung. Diese Ruhe überträgt sich in der Interaktion unbewusst auf Ihr Kind – ein zentraler Aspekt der Co-Regulation.
Dieses Prinzip der Reizarmut lässt sich auf die gesamte häusliche Umgebung ausweiten. Es geht nicht um sterilen Minimalismus, sondern darum, bewusste Oasen der Ruhe zu schaffen:
- Spielzeug organisieren: Weniger ist mehr. Rotieren Sie das Spielzeug und bewahren Sie den Großteil in geschlossenen Körben oder Kisten auf.
- Neutrale Farben: Wände und große Textilien (Vorhänge, Teppiche, Bettwäsche) in sanften, neutralen Tönen wie Weiß, Beige oder sanftem Grau schaffen einen beruhigenden Hintergrund.
- Naturmaterialien: Holz, Wolle und Baumwolle fühlen sich nicht nur angenehm an, sondern haben auch eine optisch ruhigere Ausstrahlung als glänzendes Plastik.
- Eine „Ruhe-Insel“ einrichten: Eine Ecke im Wohnzimmer mit weichen Kissen, Decken und gedämpftem Licht kann ein fester Rückzugsort für die ganze Familie werden.
Indem Sie die äußere Umgebung beruhigen, helfen Sie dem inneren System Ihres Kindes (und Ihrem eigenen), zur Ruhe zu kommen. Sie schaffen eine Welt, die nicht überfordert, sondern nährt.
Wie beruhigen Sie sich selbst, um dann Ihre Kinder oder Kollegen zu beruhigen?
In einem Moment, in dem Ihr Kind einen Wutanfall hat oder das Baby untröstlich schreit, ist der stärkste Instinkt, das Kind sofort beruhigen zu wollen. Doch der wirksamste erste Schritt ist paradox: Beruhigen Sie zuerst sich selbst. Kinder, insbesondere die sehr sensiblen, sind wie Resonanzkörper für die Emotionen ihrer engsten Bezugspersonen. Wenn Sie innerlich gestresst, wütend oder panisch sind, wird Ihr Kind diesen Zustand spiegeln und eskalieren. Ihre eigene Ruhe ist das mächtigste Werkzeug, das Sie haben. Diesen Prozess nennt man neuronale Co-Regulation: Ihr ruhiges Nervensystem hilft dem Nervensystem Ihres Kindes, sich ebenfalls zu beruhigen.
Doch wie gelingt das im akuten Stressmoment? Der Schlüssel liegt darin, kurze, körperorientierte Techniken zur Selbstregulation zu kennen, die das Nervensystem sofort aus dem „Kampf-oder-Flucht“-Modus holen. Diese „Notfall-Techniken“ dauern nur wenige Sekunden, können aber einen Wutanfall unterbrechen, bevor er eskaliert.
Es ist entscheidend, diese Techniken im ruhigen Zustand zu üben, damit sie im Notfall automatisch abrufbar sind. Finden Sie heraus, welche für Sie am besten funktioniert. Wenn Sie merken, dass die Anspannung chronisch wird und Sie dauerhaft erschöpft sind, denken Sie an die Möglichkeit einer Mutter-Kind-Kur. Laut Patientenrechtegesetz müssen Krankenkassen innerhalb von nur drei Wochen über einen Kurantrag entscheiden, was den Zugang erleichtert.
Ihr Notfallplan zur Selbstregulation: Punkte zur Überprüfung
- Punkte spüren: Pressen Sie Ihre Füße fest auf den Boden und konzentrieren Sie sich nur auf das Gefühl des Kontakts.
- Atmung steuern: Atmen Sie 4 Sekunden tief ein, halten Sie die Luft 7 Sekunden an und atmen Sie 8 Sekunden lang langsam aus (4-7-8 Atmung).
- Sensorischen Input nutzen: Lassen Sie kaltes Wasser über Ihre Handgelenke laufen oder halten Sie einen Eiswürfel in der Hand.
- Körper zentrieren: Legen Sie die Hände in der „Schmetterlings-Umarmung“ überkreuz auf die Brust und klopfen Sie sanft abwechselnd links und rechts.
- Sinne aktivieren: Nutzen Sie die 5-4-3-2-1-Technik: Benennen Sie leise 5 Dinge, die Sie sehen; 4 Geräusche, die Sie hören; 3 Dinge, die Sie fühlen; 2 Dinge, die Sie riechen und 1 Geschmack in Ihrem Mund.
Zusätzlich zu diesen Sofortmaßnahmen gibt es in Deutschland ein starkes Netz an Frühen Hilfen. In vielen Städten, wie zum Beispiel in Berlin an der Charité oder der Vivantes Klinik Neukölln, gibt es kostenfreie Baby-Sprechstunden, die auch psychologische Betreuung für die Eltern umfassen. Die bundesweite „Nummer gegen Kummer“ für Eltern (0800-111 0 550) ist ebenfalls eine anonyme und schnelle Anlaufstelle.
Das Wichtigste in Kürze
- Verabschieden Sie sich vom Label „schwierig“ und sehen Sie Ihr Kind als „Orchidee“, die besondere Pflege braucht, um aufzublühen.
- Der effektivste Erziehungsansatz ist nicht, das Kind zu verändern, sondern eine reizarme, vorhersehbare und liebevolle Umgebung zu schaffen.
- Ihre eigene Ruhe ist entscheidend. Lernen Sie Techniken zur Selbstregulation, um Ihr Kind co-regulieren zu können, und scheuen Sie sich nicht, professionelle Hilfe in Deutschland (z.B. Schreiambulanzen, Kuren) in Anspruch zu nehmen.
Wie sagen Sie „Nein“, ohne Ihr Kind zu verletzen, aber trotzdem klar zu bleiben?
Ein klares „Nein“ ist für ein reizempfindliches oder gefühlsstarkes Kind oft wie eine zugeschlagene Tür. Es fühlt sich wie eine massive Zurückweisung an und kann extreme emotionale Reaktionen auslösen. Das bedeutet jedoch nicht, dass Sie keine Grenzen setzen sollten. Grenzen sind für alle Kinder überlebenswichtig, da sie Sicherheit und Orientierung geben. Die Kunst besteht darin, das „Nein“ so zu formulieren, dass es die Beziehung nicht beschädigt und dem Kind hilft, die Grenze zu akzeptieren. Der erste Schritt ist die Unterscheidung zwischen einem unerfüllbaren Wunsch (z.B. „Ich will jetzt ein Eis!“) und einem echten Bedürfnis (z.B. nach Nähe, Autonomie oder Nahrung).
Sie müssen nicht jeden Wunsch erfüllen, aber Sie sollten das darunterliegende Bedürfnis immer anerkennen. Ein Kind, das auf dem Sofa springt (Wunsch), hat vielleicht ein starkes Bedürfnis nach Bewegung. Ein klares „Nein, auf dem Sofa wird nicht gesprungen, aber ja, wir können draußen um die Wette laufen“ erfüllt das Bedürfnis auf eine akzeptable Weise.
Hier ist eine einfache Gegenüberstellung, die im Alltag hilft, zu unterscheiden:
| Bedürfnis | Wunsch | Elternreaktion |
|---|---|---|
| Nähe und Geborgenheit | Noch eine fünfte Geschichte | Bedürfnis erfüllen (kuscheln), Wunsch begrenzen („Eine Geschichte, dann wird gekuschelt“) |
| Hunger/Durst | Nur Süßigkeiten | Gesunde Alternative anbieten („Ich sehe, du hast Hunger. Du kannst einen Apfel oder eine Banane haben.“) |
| Bewegung | Auf dem Sofa springen | Alternative anbieten: Draußen toben, Kissenschlacht auf dem Boden |
| Autonomie | Mit dem scharfen Messer schneiden | Altersgerechte Aufgabe geben („Du darfst die Banane mit dem Kindermesser schneiden.“) |
Eine besonders wirksame Technik für gefühlsstarke Kinder ist die „Ja-Leiter“, wie sie die deutsche Expertin Nora Imlau beschreibt. Statt eines harten „Neins“ bauen Sie eine Brücke aus positiven Alternativen. Beispiel: Ihr Kind will kurz vor dem Abendessen Schokolade. Die Ja-Leiter könnte so aussehen: „Nein, jetzt gibt es keine Schokolade. Aber JA, nach dem Essen gibt es einen leckeren Nachtisch. Und JA, du darfst mir helfen, den Tisch zu decken. Und JA, du darfst aussuchen, welchen Teller du haben möchtest.“ Diese Technik lenkt den Fokus vom Verbot auf die positiven Möglichkeiten und gibt dem Kind ein Gefühl von Kooperation und Autonomie zurück. Das Ziel ist nicht, die Wut oder Enttäuschung zu verhindern – diese Gefühle sind legitim –, sondern sie sicher und liebevoll zu begleiten.
Wenn Sie die Perspektive wechseln und Ihr Kind nicht als Problem, sondern als Persönlichkeit mit besonderen Bedürfnissen sehen, verändert sich alles. Der nächste logische Schritt ist, aktiv zu werden und sich die Unterstützung zu suchen, die zu Ihrer Familie passt. Kontaktieren Sie eine der genannten Beratungsstellen oder sprechen Sie mit Ihrem Kinderarzt über die Möglichkeiten, die Ihnen im deutschen Hilfesystem zur Verfügung stehen. Sie müssen diesen Weg nicht alleine gehen.